Die große Radtour 1967

Die große Radtour 1967

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Neusiedler See bei Illmitz 1967

„Gegen 3.30 Uhr nachts starten wir von Rothenburg ob der Tauber, es ist alles wie bei der Hollandfahrt. Ich kann mir nicht vorstellen wie wir nach Jugoslawien kommen sollen…“ 

So lautet der erste Eintrag im Tagebuch am 1. Tag der großen Radtour am 24. Juli 1967, ein Montag. Handgeschrieben mit Füllfederhalter in blauer Tinte am Abend unter der Zeltkoje. Von Handy keine Spur, das Mobiltelefon wie wir es kennen erblickte erst  1983  das Licht der Öffentlichkeit. Über das Altmühltal geht es zügiger vorwärts, als gedacht und so erreichen wir um 15 Uhr Beilngries, lassen uns Zeit und schlagen einige Kilometer weiter bei Töging unser Zelt im Gelände auf. Dank eingepackter belegter Brote aus Mutters Küche sind wir noch gut verpflegt, die Milch holen wir vom nächsten Bauern. Immerhin haben wir an diesem ersten Fahrttag schon 60 Pfennig für drei Postkarten ausgegeben. Knapp 150 km Berg und Tal sind geschafft und um 20.40 Uhr herrscht laut Tagebuchaufzeichnung „Bettruhe“ der etwas müden Krieger.

Die drei Freunde Dieter, Uwe und Roland gehen als 16-Jährige auf Jugoslawien-Tour und haben sich vorgenommen die Strecke über Österreich, Wien und den Neusiedler See nach Ungarn und von dort über das kroatische Küstengebirge bis an die Adria zu nehmen. Aber nicht mit dem VW-Käfer, sondern mit dem Fahrrad. Tourenrad mit 24-Gang-Schaltung? Elektrorad für den nötigen Schwung am Berg? Keine Spur von solchen Errungenschaften, dafür gab es die unverwüstliche Torpedo-Dreigang-Nabenschaltung von Fichtel & Sachs aus Schweinfurt und solide Zweiräder der Marken Rabeneick und Victoria mit massivem, schwerem Stahlrahmen! Lediglich der dritte im Bunde, Roland, war luxuriös mit einem Moped-Klassiker der Marke Zündapp motorisiert. Ihm war es aber nicht vergönnt gleich mitzufahren, sondern er konnte erst zwei Wochen später nachkommen – eine Glanzleistung ganz alleine mit seiner 2,5 PS starken Zündapp und nur nach Landkarten navigiert.

Die Vorbereitung der Tour mit Dieter und Uwe (vorne)

Die Radler waren zwar einigermaßen trainiert, aber Jugoslawien als Ziel schon ein kleines Abenteuer. Im Jahr der verpaßten Weltmeisterschaft, 1966, hatte man Holland und Belgien mit dem Fahrrad erkundet, bereits 1965 war der Nordschwarzwald das Radler-Ziel. Die Strecke über Wien bis ins damals noch sozialistische Ausland Ungarn wurde generalstabsmäßig mit Karten und Kompass geplant, statt sicherer Radwege mußte man sich überwiegend mit Landstraßen und Bundesstraßen begnügen, es waren höchstens mal geeignete Feldwege auszumachen. Zum Komfort der Dreigangschaltung kamen rund 22 Kilogramm Reisegepäck pro Rad und für die ganze wochenlange Tour hatten wir 280 Mark im ledernen Brustbeutel, was damals ganz schön viel Bargeld war!

Mit Marmeladenbrot, unsere Standardnahrung und Tee wird am zweiten Tag um 9.30 Uhr gefrühstückt, ehe es über Kelheim (bei der Rast erlauben wir uns sogar ein Mittagsnickerchen) die noch unverdorbene Altmühl entlanggeht, Felsen und Burgen grüßen uns. Als das zweite Lager abends nahe einem Bauernhof bei Langquaid aufgeschlagen wird, überrascht uns der Bauer mit sechs Eiern und einem Liter Milch, er kocht auch noch den Tee. So bleiben Tagesausgaben von 60 Pfennigen für Brot.

„Die Sonne brennt und pausenlos sind Steigungen zu fahren“ verkündet das Tagebuch weiter. Feldwege und die gut befahrene Bundesstraße führen schließlich nach Dingolfing. Als wir abends die Zeltplanen an einem Bach in einsamer Landschaft aufschlagen, fühlen wir uns wie in Peter Roseggers Erzählung vom Waldbauernbub. An einem völlig einsam gelegen Hof klopfen wir bei armen Leuten an – „Die Zeit ist hier stehengeblieben“ heißt es im Tagebuch. „Freundlich und freigiebig“ seien die Leute, die Bäuerin macht extra wegen der unverhofften Besucher das Holzfeuer an, kocht Tee und lädt zum Abendbrot ein. Die Leute sind einfach und zufrieden, für sie sind wir willkommene Abwechslung. Ein schöner Abend unter gastfreundlichen Bauersleuten und den Luxus tagsüber 50 Pfennige für den Einkauf von Bananen ausgegeben zu haben – was will man mehr.

Geschirrspülen am Bach, schwitzen und bergaufwärts schieben in der Eggenfelder Gegend, dann über Pfarrkirchen auf die österreichische Grenze zu, das Rottal entlang, zeitweise bei Gegenwind und Regen. Die Landschaft finden wir nicht besonders reizvoll und abseits der Straße wird an der Rott bei einer Kuhweide das Zelt aufgeschlagen. Der 28. Juli begann mit einem erfrischenden Bad bei aufgehender Sonne in der Rott, dann geht es zügig auf Österreich zu und Schärding gilt als erstes Etappenziel am 5. Reisetag, 28. Juli 1967. Uwe hat mit einem Platten zu kämpfen, aber im Waldlager bei Feuerbach zwischen Fichten und hohem Gras läßt sich der Abend idyllisch beschließen. Und wieder ein Gutshof in der Nähe mit einer netten Bauersfrau, die den Radlern nicht nur Suppe kocht, sondern auch die Feldflaschen mit gutem Most füllt. Gegen 22 Uhr ruft uns ein freundlicher Österreicher eine „Gute Nacht“ ins Zelt.

Heutzutage bei den top ausgebauten asphaltierten und sicheren Radwegen sowie Touren-Fahrrädern mit 30 Gängen, Scheibenbremsen und vielleicht noch satellitengestütztes Navi am Lenker, mag man über solche Erlebnisse schmunzeln. Doch damals sah die Welt noch etwas anders aus, unbezahlbare Erfahrungen fürs Leben waren das. Mal schnell daheim anrufen, ständig fotografieren, den Standort posten? Weit entfernt von solchen Verhältnissen und gerade deshalb ein viel intensiveres Erleben. Eferding wird am ersten Wochenende erreicht, Reifen flicken und dann noch ein Gewitter – das treibt uns am Abend in einen Rohbau am Ortsrand. Die Baustellenbewohner und ihr kleiner Gaskocher lockten Nachbarn an und die luden spontan zum nächtigen in ihrem möblierten, gemütlichen Kellerraum ein.

Neusiedler See vor Augen

Nach rund 450 Kilometern und übernachten im Freien fühlt man sich wie im Hotel. „Wir schlafen zufrieden ein – den Neusiedler See vor Augen!“ heißt es im Tagebuch, dabei lag aber Wien noch dazwischen. Und am liebsten wäre man länger bei der gastfreundlichen Familie Zaininger geblieben, die uns früh noch mit der Frage überrascht, wann das Frühstück gebracht werden darf. Die Riesenstrecke vor Augen fällt der Entschluss von Linz nach Wien die österreichische Bahn zu nutzen. Es wird gemütlich, die Abfertigung mit den Radeln dauert endlos, dafür viel Wiener Charme. „Schnell sa’mer net“ steht im Tagebuch notiert, in Wien sind wir mit unserm ganzen Gepäck mit der Straßenbahn unterwegs, dann Bus, um schließlich den Südbahnhof zu erreichen. Jetzt zählt nur noch eines: Entspannung am Neusiedler See, so schnell wie möglich. Und mit einer Lokalbahn geht es dorthin, die Räder extra verschickt: herrliche Zugfahrt durch eine steppenähnliche Gegend in alten Zugwaggons mit einer Plattform zum Hinaustreten, wo wir die untergehende Sonne beobachten und uns wie im Wilden Westen zur Eisenbahn-Pionierzeit fühlen.

Neusiedler See bei Illmitz – Uwe beim Sonnenuntergang

Als wir in Neusiedl am See am Bahnhof eintreffen, erfahren wir, dass unsere separat verschickten Fahrräder nicht angekommen sind. Auf dem Platz in der Nähe hätte man zelten können, aber riesige Mückenschwärme halten uns ab, Und wieder ist uns das Glück hold, denn ein schon spätabends leicht beschwingter Bremer Wandervogel mit seinem 15-jährigen Sohn lädt uns ein, in seiner Pension zu übernachten. Das enge Zimmer mit Schlafsack am Boden empfindet man in dieser Lage als luxuriös. Am andern morgen stehen wir erneut am Bahnhof und warten schon etwas säuerlich auf unsere Räder. Vom See haben wir noch nichts gesehen, denn bis zum Seebad sind es über zwei Kilometer. Warten ist angesagt – bis endlich nachmittag um 15 Uhr die Räder per Zug anrollen.

Pußta-Landschaft und Schnaken

Nun wird auf den Strand zugeradelt und in Podersdorf sehen wir nicht nur zum erstmal die Weite des Neusiedler Sees, sondern stürzen uns auch gleich in die Fluten. Bei höchstens 1,70 Meter Tiefe läßt sich ja nicht so leicht untergehen. „Das Baden im Neusiedler See ist eine erste Belohnung für die Anregungen der Fahrt“, notiert das Tagebuch. Die Puszta-Landschaft, das riesige flache Gewässer und die weitgehend unberührte Natur hielten uns länger fest als eigentlich vorgesehen. Das unverhoffte Wiedersehen mit unserem Bremer Wanderfreund läßt uns seiner Empfehlung folgen, den Zeltplatz am kleinen See bei Frauenkirchen aufzusuchen. Doch als es schnell dunkel wir,d schlagen wir einfach am Straßenrand auf einer Wiese die Zeltkoje auf. Ein Naturerlebnis sondersgleichen: „Es prasselt geradezu auf uns herab, es schneit Schnaken!“ Eingemummt in Jacke und lange Hose fühlte man sich eher auf Gebirgstour, denn am warmen Steppensee. Uwe versucht mit seiner Tabakspfeife im Zelt die Viecher in Schach zu halten. Der Schlafsack macht aus uns zwei Mumien, das Zelt ist dicht verqualmt und so läßt sich wenigstens einigermaßen einschlafen.

Illmitz im Seewinkel

In der Strohhütte

Uns gefällt es so gut im Seewinkel, dass wir am 9. Tag, den 1. August 1967, kreuz und quer entspannt durch die Gegend radeln. Über St. Andrä, Wallern und Apetlon wird Illmitz erreicht, wo unser Geldwechselwunsch scheitert, denn dienstags ist geschlossen. Das Illmitzer Strandbad entschädigt für die Stechmücken und als wir am schilffigen Ufer eine Strohhütte mit malerischem Ziehbrunnen entdecken, steht fest: Hier wird in der Hütte übernachtet. Nach ausgiebigem Baden radeln wir nochmals in den Ort und lassen uns auf einer Bank unser Marmeladenbrot schmecken, dazu leisten wir uns die österreichische Limonade „Schartner Bombe“. Doch das sollte nur der Auftakt sein, denn wir freuen uns auf einen Abend in der herrlichen Puszta-Scheune, einem damals noch neueren großen Holzbau. Dort herrscht endgültig Urlaubsstimmung. Man kommt mit Studenten aus dem Ruhrgebiet ins Gespräch und spät abends gesellen sich zwei nette Österreicher dazu, die uns mit Rotwein und Käsebrot überraschen. Um Mitternacht geht’s dann ins Quartier „Strohhütte“. Nur der etwas weinselige Zustand läßt uns in der Hütte die erneute Stechmücken-Angriffswelle überstehen.

Pusztascheune Illmitz am 1. August 1967

Die Illmitzer Tourismuswirtschaft hatten wir immerhin mit 13 Schilling allein für Weiß- und Rotwein an dem Abend gefördert. Die Bratwurst in der Scheune kam auf acht Schilling. Nur 46 Kilometer waren wir an diesem Tag geradelt. Beim üblichen Marmeladefrühstück am 10. Tag vor der Strohhütte bestaunen uns bereits einzelne Touristen – die Gegend, heute komplett unter Naturschutz, scheint damals erst entdeckt zu werden. Die ungarische Grenze als Ziel vor Augen geht es schnurstracks nach Pamhagen, aber da hat wohl unsere Kartennavigation versagt: den erwarteten Grenzübergang gibt es dort gar nicht. Stacheldraht und ein Wachturm zwingen zur Umkehr. Zurück über Neusiedel treffen wir nochmal auf den freundlichen Bahnhofsbeamten, der uns für rund zwei Mark Schillinge schenkt, damit es in Landeswährung für eine letzte Fahrt mit der Lokalbahn inklusive Fahrräder bis in Grenznähe bei Eisenstadt reicht (42 Schilling waren zu berappen). Am 10. Tag um 17. Uhr geht es über die Grenze.

Zur ungarischen Grenze

Die freundlichen österreichischen Grenzbeamten unterhalten sich mit uns „wie mit alten Kameraden“, auf der ungarischen Seite wird dagegen genau kontrolliert, sogar die Fahrradnummer will man wissen sowie eine exakte Inhaltsangabe des Gepäcks. Aber wir sind tatsächlich im sozialistischen Ungarn angekommen, durchfahren Sopron und fühlen uns in einer andern Welt. Starke Grenzbefestigungen und viel Militär fällt auf, Fuhrwerke auf den Straßen und Autos, die bei uns als Oldtimer gefragt wären, Häuser, die noch an Kriegszeiten erinnern. Nahe Sopran stoppen uns zwei schwerbewaffnete Soldaten am Waldrand und wir haben nach genauester Musterung von Rädern und Gepäck Mühe Ihnen klarzumachen, dass wir keine DDR-Flüchtlinge sind. Immer wieder fragt man, ob wir aus „Deutschland Faschiste“ oder „Deutschland Sozialiste“ kommen? Und als wir begreifen, dass wir nicht aus dem sozialistischen Deutschland kommen dürfen, entscheiden wir uns, wenn auch innerlich widerstrebend, für die „faschistische“ Variante, was uns letztlich weiterbringt in diesem Falle…

Das Dorf Nagycenk bei Deutschkreuz wird erreicht, am Dorfbrunnen holen wir Wasser und rasten. Ein wirkliches Erlebnis sind für uns solche Dörfer in Ungarn: statt Autos viele Fuhrwerke mit kleinen Pußtapferden und offensichtlich arme Bauern. Bei Einwohnern, die uns am Dorfplatz entdecken, sind wir die Attraktion, werden höflich und freudig bestaunt und angesprochen, weil man kaum glauben kann, dass wir mit dem Fahrrad aus Westdeutschland kommen. Als wir weiter wollen, spricht uns eine Frau auf deutsch an und lädt uns in ihr Haus ein. Dort gehört es zur Gastfreundschaft, dass man das Schlafzimmer der Familie für uns räumt und ein Abendessen serviert. Es gibt Bohnensuppe, danach Nudeln mit Marmelade und Tee. Theresia Hofstedter und ihre beiden Töchter erzählen begeistert von Deutschland, haben sie doch in Coburg Verwandte. Bis Mitternacht schwelgt man in Erzählungen. (Fortsetzung folgt). ROLF DIBA

 

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