„Karl d’r Krieg is ausbroche!“ Zeitzeuge Karl Thürauf erzählt von Zerstörung, Not...

„Karl d’r Krieg is ausbroche!“ Zeitzeuge Karl Thürauf erzählt von Zerstörung, Not und Wiederaufbau

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Karl Thürauf am Glocken-Stammtisch, umrahmt von Erinnerungsbildern. Foto © rolf diba

ROTHENBURG – Hat die Menschheit aus der Geschichte gelernt? „Ich glaube nicht“ antwortet Glocken-Wirt Karl Thürauf, 87, angesichts des Krieges in Europa. In der Tauberstadt ist er eine bekannte Persönlichkeit, ein Zeitzeuge mit großem Wissen.  Wir sprachen mit ihm über seine Erinnerungen an die Kriegszeit, den Bombenangriff vom 31. März 1945 und die Nachkriegszeit. Als Winzer und Gastwirt hat er erfolgreich die Rothenburger Weinbautradition wieder belebt.

Wie schrecklich Kriege sind, das glaubte man nur noch aus Geschichtsbüchern und Erzählungen erfahren zu müssen. Der russische Überfall auf die Ukraine lehrt jedoch, dass  der Krieg  mit allen Schrecken nach Europa zurückgekehrt ist. Dabei denkt Karl Thürauf an seinen Vater: „Beim Rußlandfeldzug war er in Lemberg, Kiew und Charkow dabei”. Nur eine Verwundung habe verhindert, dass es nicht weiter bis Woronosch, sondern zurück in die Heimat ging.

Vorkriegsansicht der Glocke am Plönlein und „he“-Lyrik von 1953. Repro @ rolf diba

Als Fünfjähriger bekam der Rothenburger den Beginn des 2. Weltkrieges mit. An einem Freitag, dem 1. September 1939, rief ihm die Nachbarin Bär am Siebersturm zu: „Karl, d‘r Krieg is ausbroche!” Er rannte sofort nach Hause,  überbrachte den Eltern aufgeregt die Neuigkeit und bekam ein „Dös wiss’ mer scho” zur Antwort.

Mehrere feindliche Bomberverbände mit jeweils bis zu 300 Maschinen habe er als Bub manchmal über der Stadt gezählt, flogen sie sehr hoch am Himmel sah man keine Gefahr, weil sie dann weiterzogen.  Sandsäcke zum Löschen von Brandbomben und ein Notfallköfferchen parat zu haben, sei normal gewesen.

Am Ostersamstag, 31. März 1945  um 10 Uhr heulten die Sirenen, kurz darauf luden 16 US-Flugzeuge ihre Bombenlast ab und legten die nordöstliche Altstadt in Schutt und Asche. Die Bilanz: 39 Tote (9 davon Kinder), 306 zerstörte und 52 beschädigte Wohnhäuser, dazu einige öffentliche Gebäude (ein Teil des Rathauses) sowie neun Türme und tausend Meter Stadtmauer.

Die von US-Bomben zerstörte östliche Altstadt. Foto: Stadtarchiv

Im Glocken-Keller erlebte die Familie Thürauf mit anderen „in Todesangst” die Angriffe, ehe es hieß „Alles raus, es brennt!” Als Glücksfall erwies sich, dass in der Glocken-Garage ein großes Löschfahrzeug mit Besatzung der Ludwigshafener Feuerwehr stationiert war, das einige Brände in Plönlein-Nähe bekämpfte.  Und 50 im Glocken-Saal einquartierte 14jährige Buben der Kinderlandverschickung Nürnberg bildeten eine Eimerkette zum Löschen. Das zugehörige landwirtschaftliche Anwesen in der Neugasse ist abgebrannt, nur Pferde und Rinder waren zu retten.

Einschulung 1939: Geschwister Anneliese und Karl Thürauf sowie Marianne Härdtlein (rechts). Foto: privat

Die Eltern befürchteten weitere Angriffe und brachten deshalb Karl und seine zwölfjährige Schwester Anneliese aus der  brennenden Stadt  zu Verwandten nach Bettenfeld. Doch dort erlebten diese im Keller die ganze Nacht Artilleriefeuer. Thürauf: „Es war fast noch schlimmer weil es nicht mehr aufgehört hat”. Die Mutter habe sie dann am andern früh mit dem Leiterwägelchen wieder geholt, während die Verwandten lieber in den Felsenkeller des Anwesens Lang am Steinbruch wechselten, was ihnen vermutlich das Leben rettete. Thürauf: „Eine Granate flog die zweite Nacht in den Keller, in dem wir zuerst waren“.

Vor Artilleriebeschuss bewahrt

Rothenburg wurde dank vernünftiger Unterhändler von weiterem Beschuss verschont und am 17. April  friedlich durch die Amerikaner eingenommen. Als die ersten US-Soldaten in die Stadt kamen, habe man keine Angst mehr gehabt, sie seien als Befreier gesehen worden. „Dies vor allem auch unter dem Eindruck des Schicksals der Männer von Brettheim und unseres Nachbarn Johann Rößler” betont Thürauf.

Einer der Glocken-Gasträume in einer alten Aufnahme – bis heute hat das Haus seinen historischen Charakter so bewahrt.

An die mutigen Brettheimer, (die Hitlerjungen entwaffnet hatten und  von der SS dafür zum Tode verurteilt  wurden)  erinnert sich Karl Thürauf mit Wehmut, sie waren häufig in der Glocke zu Gast: „Ich kann heute noch sagen wo der Gackstatter und der Hanselmann und am Nebentisch der Wolfmeyer saßen. Mich schmerzt das bis zum heutigen Tage, wenn ich an diese großartigen Leute denke!” Alle drei hat man am 10. April 45 an den Friedhofslinden in Brettheim aufgehängt.

Der Rothenburger Gärtner Johann Rößler verkaufte oft am Plönlein. Er bleibt Karl Thürauf als gutmütiger, aufrechter Charakter in Erinnerung. Als Volkssturm-Mann kam er bei Frankfurt/Oder verwundet ins Lazarett und schlug sich nach seiner Entlassung zurück bis Rothenburg durch. Vater Albert Thürauf habe  ihm dringend geraten, zu flüchten und habe ihm vergeblich in der Glockenscheune ein Versteck angeboten. Am 7. April hat man Rößler als angeblichen Deserteur an der Friedhofsmauer erschossen.

„Jetzt müssen die Juden fort!“

Auch vom guten Zusammenleben mit den jüdischen Familien weiß Thürauf aus seiner Jugendzeit.  Den Schrecken verspüre  er heute noch, als sein Vater nach Hause kam und bestürzt mitteilte, „Jetzt müssen die ganzen Juden fort!” Er denkt an die Familien Kerschbaum in der Neugasse, die Löwenthals in der Herrngassse oder die Metzgerei Lehmann in der Oberen Schmiedgasse, vor allem aber an die Brüder Mann, mit denen man Viehhandel betrieb. Die Familie war schon 1933 von den Nazis mißhandelt worden. Deren Söhne Norbert und Justin flohen in die USA und besuchten in den fünfziger Jahren mehrmals Rothenburg.

Karl Thürauf: „Sie haben dann bei uns gewohnt, mit ihnen bestand eine richtige Freundschaft, die haben nie was Negatives über diese furchtbare Zeit gesagt. Wenn sie Zimmer bestellten mußte ich immer eine Schafkopfrunde für sie in der Glocke organisieren“. Dass sie das schreckliche Geschehen so beiseite lassen konnten, sei unglaublich gewesen. Viele Juden aus Rothenburg sind  in den Konzentrationslagern umgekommen, einige konnten fliehen.

Legendär: der Künstlerstammtisch

Künstler-Stammtisch von 1952 mit Albert Thürauf (links) neben Konrad Lindemann, Dr. Paula Schlüter, dann die beiden Schwestern Rosa Krämer und Anna Förster, daneben eine Bekannte von Streckfuß (Privatmusikverein) neben Lehrer Walter Horn und rechts außen Kunstmaler Willi Foerster. Ganz vorne in der Mitte Mathilde Lindemann. Repro © diba-foto

Es folgte eine entbehrungsreiche Zeit des Hungers nach dem Krieg.  Man war für Brot und Suppe dankbar, sagt Karl Thürauf.  Doch es kehrte wieder Leben in die Glocke ein. Als Stammlokal des Künstlerbunds und Privatmusikvereins machte der „Kultur-Stammtisch” Furore.  Thürauf erwähnt Maler und Musiker wie Willi Foerster, Rudi Schacht, Eduard Hintze und Dr. Konrad Lindemann: „Die haben oft nachts ihre Instrumente geholt und dann gings los mit Baßgeige, Ziehharmonika oder Violine und es war eine wunderbare Stimmung und Gaudi” Auch Mathilde Lindemann-Hinze (die noch bei Tucholsky in Berlin im Haushalt arbeitete), bekannt durch ihre unvergessenen „he“-Gedichte, gehörte dazu.

Nachkriegs-Stammtisch der Rothenburger Persönlichkeiten von links: Ludwig Haag, Walter Ehmann, Herbert Probst, Kurt Gräder, Gustav Hufnagel, Fritz ?, Gerhard Rüdinger, Peter Holstein, Karl Korn und Ernst Unger. Repro © rolf diba

Karl Thürauf wurde schon 1955 Geschäftsführer der  Glocke und entwickelte gezielt den Weinbau. Von 1978 bis 1999 kämpfte er (bis an seine gesundheitlichen Grenzen) erfolgreich um die Anerkennung als Weinbauort.  Heute ist es das südlichste Weingut Frankens und der Tauber.  Zusammen mit seiner Frau Ursula, die er 1958 als Hotelgast kennengelernt hatte, schaffte er es mit der Familie den Hotel- und Winzerbetrieb zukunftsfähig zu machen. Sohn Albert hat längst die Unternehmensleitung übernommen, setzt die seit 1898 bestehende Familientradition fort und sogar die Enkelgeneration ist bereits im Betrieb tätig.  Für den Senior ist es eine große Freude wie gut die Umstrukturierung zum  Weingut, Restaurant und Hotel geglückt ist.

Bald nach Kriegsende begann der Wiederaufbau der Stadt, den die Amerikaner mit Spenden unterstützten.  Ein an der Bombardierung beteiligter US-Pilot entschuldigte sich später sogar für die  militärisch unnnötige Zerstörung von vierzig Prozent der historischen Altstadt.

ROLF DIBA

Ergänzendes Video aus dem Zeitzeugen-Gespräch:

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