ROTHENBURG – „Wenn lang die Bilder schon verblassen” lautet der Buchtitel zur gedruckten Bilanz der Dokmentarfilmgruppe der Oskar-von-Miller-Realschule Rothenburg. Was Thilo Pohle vorgelegt hat, ist ein einzigartiger Lesestoff zu 40 Jahren Schüler-Filmarbeit. Mit den berührenden Zeitzeugen-Filmen der zwölf- bis sechzehnjährigen Schüler und diesem Buch sorgt man dafür, dass die Erinnerung an viele Schicksale nicht verblassen wird und die Bilder lebendig bleiben.
Eine solches Sach- und Erzählbuch hält man für überfällig, wenn man weiß, was die Filmgruppe unter Leitung von Thilo Pohle erreicht hat. Vor allem, weil es unwiederbringliche Zeitdokumente sind, die aus unzähligen Interviews mit Menschen entstanden, die ihre ganz persönlichen Erlebnisse und Gefühle zu oft schrecklichen Erlebnissen schildern. Solche lebendigen Erinnerungen aber wären endgültig verloren, wenn sie niemand aufgezeichnet hätte, denn viele der Zeitzeugen sind schon verstorben und nur noch wenige können heute aus der nationalsozialistischen Diktatur berichten.
Vorwort von Iris Berben
Das im Eigenverlag aufgelegte 220-seitige großformatige Werk hat schon nach den ersten Vorab-Exemplaren namhafte Fürsprecher gefunden. Schauspielerin Iris Berben, bekannt für ihr Engagement gegen Rechtsradikalismus und Antisemitismus, war so beeindruckt, dass sie das Vorwort übernahm. Was mit einer kleinen Idee begann, so schreibt sie, sei für über 200 Filmschüler „zu einer großartigen und einmaligen Filmreise” geworden. Film sorge für Erinnerung, ohne die man keine Zukunft begreifen und gestalten könne.
Begonnen hatte für die Filmgruppe alles im Jahr 1981 mit der Idee, die Brettheimer Dorfgeschichte aufzugreifen, bei der drei couragierte Dorfbewohner an der Friedhofslinde von der SS gehängt wurden, weil sie Jugendliche entwaffnet hatten, die noch am 7. April 1945 in den Krieg ziehen sollten. Einer der Gehängten war der Großvater eines der RealSchüler. Brettheim sollte das Team bis heute nicht mehr loslassen, aber es erwuchsen noch ganz andere Aufgaben daraus.
Bis heute sind über 30 dokumentarische Produktionen zur NS-Zeit aus Schülerhand entstanden und zwar in mehreren Sprachen. Bewundernswert, dass die Filmschüler ihre Arbeiten in rund 800 Veranstaltungen vorstellten, darunter an den Goethe-Instituten von Moskau bis San Francisco, von Kopenhagen bis an die Elfenbeinküste. Vor allem jedoch in hunderten von Dörfern in Deutschland, an Schulen und Akademien. Dabei können die Zahlen das Erlebte nicht im entferntesten ausdrücken, dies alleine schaffen nur die tief berührenden Filmbeiträge.
Was dahintersteckte an Engagement und oft an Hartnäckigkeit in der Recherche gegen manche Hindernisse, wird im Buch deutlich. Dazu tragen nicht nur die Schilderungen Beteiligter bei, sondern auch die Bilder von Begegnungen und die Geschichtsdokumente aus Archiven. Filmschüler erzählen aus ihrer Sicht die Produktionserfahrungen im In- und Ausland. Zeitzeugen selbst finden in Wort und Bild ihren Platz und tragen zu diesem Geschichtsbuch über die NS-Zeit bei.
Welche Helden braucht das Land?
Zwar gibt es zu den Brettheimer Ereignissen Publikationen unterschiedlicher Autoren (manche wurden erst durch die Filmarbeit dazu animiert), aber Thilo Pohle ist mit diesem Buch eine sehr dezidierte Schilderung aller zugehörigen Umstände inklusive der fragwürdigen Nachkriegsprozesse gelungen (die Täter der SS waren freigesprochen worden). Von großem Erfolg beschieden war ein Brief der Filmgruppe an Bundespräsident von Weizsäcker, dessen Worte an die Brettheimer für Genugtuung sorgten.
Auch für alle andern Themen gilt stets der ganz persönliche, menschliche Blickpunkt. Da gehört das Kriegsende in Rothenburg mit den Befragten zum Luftangriff ebenso dazu wie vor allem das jüdische Leben und das beklagenswerte Schicksal der jüdischen Gemeinde im Dritten Reich.
Im Kapitel „Welche Helden braucht das Land?” wird der Widerstand unter Hitler an Beispielen mutiger Menschen aus Rothenburg und Umgebung geschildert. Es werden einfache Leute gewürdigt, die viel Weitblick zeigten und mutig dem Regime trotzten. Doch die Filmgruppe wagte sich auch an solch international brisante Themen wie das SS-Masaker in Oradour heran. Mit Robert Hebras erzählt ein Überlebender seine Geschichte. Ebenso wie mit Salle Fischermann ein Überlebender des KZs von Theresienstadt zu Wort kommt. Die Schüler drehten an den Original-Schauplätzen.
Kontakt zu Sowjet- und US-Armee
In der damals noch sowjetischen Garnisonsstadt Nohra bei Weimar begleiteten sie 1992 den Abzug der Garnison und fragten nach den Menschen hinter politischen Entscheidungen. Schließlich kam es zur intensiven Zusammenarbeit mit der US-Armee bei der englischen Fassung des Brettheimfilms und beim Beitrag zu 75 Jahre Kriegsende und der Bombardierung Rothenburgs.
Es fällt bei diesem Werk schwer etwas herauszugreifen, es sind oft die Geschichten hinter der Geschichte, die so faszinieren. Man nimmt es immer wieder zur Hand und staunt, was hier von engagierten Schülern im Team geleistet wurde. Dass es dafür gleich mehrere Filmpreise gab (unter anderem den Würzburger Friedenspreis, den jüdischen Marion-Samuel-Preis oder Gottlob-Haag-Ring) zeigt die große Anerkennung.
Diese Bilanz der Arbeit von 180 Filmschülern aus über zehn Schülergenerationen, die an Schauplätzen der NS-Zeit in Europa gedreht haben, ist für alle Generationen lesenswert. Regionale Geschichte ist darin mit europäischer Geschichte auf individuelle Art verknüpft. Zu den übrigen Filmproduktionen in Afrika soll noch ein eigener Band erscheinen. Schulen und Bildungseinrichtungen haben längst den Wert der Filme für den Unterricht entdeckt, dies dürfte sicher auch für dieses Buch gelten.
ROLF DIBA
„Wenn lang die Bilder schon verblassen… Das Abenteuer Schule im Umgang mit Erinnerung” von Thilo Pohle, im Selbstverlag erschienen, 220 Seiten, Hardcover, Großformat 17,5 x 24,5 cm, Fadenheftung, Preis 29 Euro inkl. Versand. Bestellung und Infos im Internet unter dokumentarfilmgruppe.de